Mit dem Mund kann man lügen, nicht mit dem Maul, das man dabei macht (Nietzsche)
19. März 2020
Wie in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens vom 18.03.2020 zu erfahren war, haben die zwei grössten christlichen Kirchen der Schweiz beschlossen, mitten in der Corona-Krise „ein Zeichen der Hoffnung“ zu setzen. Und das geht so:
Zunächst treten zwei „hohe“ Kirchenvertreter, Gottfried Locher, Präsident der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, und Felix Gmür, Bischof von Basel und Präsident der Schweizerischen Bischofskonferenz, vor eine Kamera und zünden umständlich eine Kerze an – natürlich keine spezielle mit irgendwelchen religiösen Symbolen, sondern eine ganz neutrale, weisse aus der Migros, man will ja - Gott bewahre! – keine religiösen Gefühle aufkommen lassen oder gar welche verletzen. Interessant ist zudem, dass beim ökumenischen Hantieren mit der Kerze die Hauptsorge des Bischofs darin besteht, das brennende Zündhölzchen trotz Lk 12,49 möglichst schnell und vollständig wieder zu löschen. Irgendwie typisch, er steht ja auch, wie aus dem Off betont wird, „rechts im Bild“…
Und dann stehen die beiden gelehrten Herren (Ph.D. M.B.A., Dr. theol. h.c. der eine, Dr. phil., Dr. theol. der andere) hilflos und irgendwie zerknirscht nebeneinander (zu nahe übrigens, gemäss geltenden Richtlinien des Bundesamtes für Gesundheit) wie zwei Schüler, die beim Aufsagen des Einmaleins stecken geblieben sind. Ihr Hauptproblem in diesem Moment: wohin mit den Händen. Die Kamera ist so gemein, dieses Problem zu unterstreichen.
Und dann muss man, nun ja, halt doch etwas sagen. Dabei sollen sich restlos alle, alle, alle angesprochen fühlen, „egal wer wie was glaubt“. Somit ist von vornherein klar: inhaltlich liegt nicht mehr allzu viel. Die beiden beginnen also, schön abwechseln und mit sanfter, leicht singender Stimme, vorsichtig gedrechselte Texte zu rezitieren. Über das Zusammenstehen, das jetzt nötig wäre; über die Einsamkeit, die droht; über die Ungewissheit, der alle ausgesetzt sind. Einfach über das, wovon eh alle schon reden. Ganz am Schluss nimmt dann aber doch der Bischof all seinen Mut zusammen und setzt zu einer scharfen Kurve an, um wenigstens etwas halbwegs ein bisschen Christliches gesagt zu haben – natürlich nur in Form einer Ich-botschaft, die mit betretenem Lächeln hervorgepresst wird: „Auf jeden Karfreitag folgt Ostern.“
Das Schlussbild will die Zuschauer*innen - nein, natürlich nicht auffordern, sondern nur ganz diskret einladen, jeden Donnerstag abend wie eben vorexerziert, eine Kerze anzuzünden und auf den Fenstersims zu stellen, woraus sich dann „ein Lichtermeer der Hoffnung“ über das ganze Land ergiessen soll. Die beiden Präsidenten stehen deshalb (jetzt erst recht zu nahe beieinander) hinter ihrer Kerze am offenen Fenster. Wohl scheint ihnen immer noch nicht, trotz ihrer adretten, bürgerlichen Kostümierung. Problem sind halt wieder die Hände (die ja auch in der gegenwärtigen Krise den wichtigsten Gefahrenherd darstellen). Der Kirchenpräsident haut den gordischen Knoten durch und verschränkt etwas trotzig die Arme. Der Bischof faltet kurz die Hände – natürlich bloss säkular vor dem Bauch, wie fürs Pressefoto. Aber weil auch das zu religiöse wirken könnte, löst er die Geste gleich wieder auf, um sie nach einer schwer deutbaren Übersprungshandlung ratlos wieder quasi zu falten…
Kurz: wer bislang nicht verstanden hat, warum die Kirchen immer leerer sind, bekommt mit diesem Tagesschaubeitrag in 2 Minuten und 14 Sekunden eine schlagende Antwort: es liegt nicht am Zölibat, es liegt nicht an der Sexualmoral, es liegt nicht an den Kreuzzügen, es liegt nicht an den Misssbrauchsfällen, es liegt ganz einfach an der Belanglosigkeit, zu der die heutigen Kirchenfunktionäre die christliche Tradition herabgewirtschaftet haben, indem sie darin die Theologie, die Rede von Gott, die halt immer sperrig ist, durch säuselndes, moralinhaltiges Geplätscher ersetzt haben.
Wer’s nicht glaubt, lese z.B. das Pestlied von U. Zwingli, ein grosser Text der noch 500 Jahre nach seiner Niederschrift die Gefühle einzufangen vermag, mit denen wir seit drei Wochen Bekanntschaft machen. Aber natürlich, Zwingli, der ein grosser Theologe war, erlaubt sich darin ganz ungeniert, die Pest, die ihn 1519 beinahe umgebracht hätte, mit Gott zu verknüpfen. Und das ist heutzutage gar nicht sexy, denn dabei könnten dann etliche merken, dass der Grund ihrer Existenz und ihrer Not etwas ganz anderes ist, als einfach ein „lieber Gott“, der sich durch Doktoren der Theologie analysieren und durch kirchliche Bürokraten verkündigen lässt…
Rorate coeli desuper
Advent 2017
Rorate-Gottesdienste sind kurz vor Weihnachten jedes Jahr wieder ein Renner. Erstaunlich ist das nicht, denn im öden Einheitsbrei der nachkonziliären Liturgie sind sie etwas Besonderes: das frühe Aufstehen, die vielen Kerzen in der dunklen Kirche und vielleicht auch der anschliessende Milchkaffee samt Gipfeli – das fährt eher ein, als die immer gleichen moralischen Appelle, mit denen man üblicherweise in der Kirche zugetextet wird.
Und wenn sich dann auch dem Bild zuwendet, das sich hinter dem lateinischen Wort „Rorate“ verbirgt, dann merkt man erst recht mit Staunen, wie sehr eine doch eher altmodische Gottesdienstform Fragen, die wir heute haben, trifft und zugleich auf unerwartete Weise beantwortet.
„Rorate“ ist ja das erste Wort eines Verses aus dem Buch Jesaia, „Rorate coeli desuper et nubes pluant justum. Aperiatur terra et germinet salvatorem.“ - "Tauet, Himmel von oben herab und die Wolken sollen den Gerechten (bzw. Gerechtes) regnen. Die Erde öffne sich und lasse den Heiland (bzw. das Heil) spriessen.“ (Jes 45,8).
An diesem Bild sticht gleich das Defätistische ins Auge, das so sehr unserer modernen, fortschrittsgläubigen Zuversicht widerspricht: Gerechtigkeit und Heil (erst in der lateinischen Übersetzung werden diese zur Person des Erlösers umgebogen) lassen sich weder moralisch erarbeiten, noch politisch organisieren, noch technisch herstellen. Wenn überhaupt kann man sie nur erhoffen und erbetteln, wie den Tau, der bisweilen vom Himmel fällt und der dann die Fruchtbarkeit der Erde in Schwung versetzt. Ein solches Bild ist das Medikament der Wahl für „das erschöpfte Selbst“, das sich heutzutage, wie es der Soziologe Alain Ehrenberg gezeigt hat, auf dem hohen Ross der Eigenverantwortung, der Selbstverwirklichung und des verbissenen Strebens nach Glück und Erfolg zunehmend in die Depression reitet. Deswegen wäre es vielleicht gescheiter, Rorategottesdienste nicht vor, sondern kurz nach Weihnachten anzubieten – dann nämlich, wenn alle meinen, sie müssten allerhand Vorsätze fassen, obwohl sie doch genau wissen, dass sie daran scheitern werden…
Der Tau als religiöses Symbol lenkt den Blick aber auch ziemlich schnell auf den Islam. Dort wird das Wort, das Gott an den Menschen richtet, durchwegs, anders als im Christentum, nicht als „Offenbarung“, sondern als Tau vom Himmel verstanden, und das macht einen ziemlichen Unterschied. Die biblische Vorstellung der „Offenbarung“ (hebräisch als „Entblössung“, griechisch als „Apokalypse“, d.h. als „Enthüllung“) besagt ja, dass ein Vorhang oder ein Schleier weggezogen wird ("re-velatio") und der Mensch dann Zusammenhänge sieht, die bislang verborgen waren, die aber immer schon bestanden hatten. In einer göttlichen „Offenbarung“ zeigen sich immer „ewige Wahrheiten“. Ganz anders in der koranischen „Herabtauung“ (nuzul): dieses Bild stammt aus der Lebenswelt der Kamelnomaden (deswegen stammt es bestimmt vom historischen Mohammed, der ja Karavanenunternehmer war) und es besagt, dass der Mensch wie ein halbverdursteter Kameltreiber so ziemlich am Ende ist und nur noch auf den nächtlichen Tau hoffen kann, der ihn rettet und ihm auf dem Weg ein bisschen weiterhilft. In einer göttlichen „Tauung“ zeigen sich also keine ewigen Wahrheiten, sondern immer nur momentane, kleine Überlebenshilfen, die einem bestimmten Menschen in einer konkreten historischen Situation ein wenig weiterhelfen. Der Gott, der sich im Koran – nicht offenbart, sondern herabtaut, ist ein barmherziger und gnädiger Augenblicksgott, der den hilflosen Menschen immer wieder aus immer neuen Sackgassen herausführt, und zwar immer nur für kurze Zeit (wie ja auch der Tau am Morgen schnell wieder weg ist). Der koranische Gott ist kein Gott der ewigen Wahrheiten, sondern der momentanen Ermutigung. Um diesen islamischen Gott kennenzulernen, muss man daher bei der Koranlektüre die jeweiligen, konkreten „Umstände der Herabtauung“ (asbab al-nuzul) kennen, wie das der mittelalterliche Islam auch tat - d.h.: man muss den Koran historisch-kritisch lesen! Dass das heute ausgerechnet die fundamentalistischen bzw. salafistischen Supermuslime nicht wollen, zeigt bloss, wie unislamisch, ungebildet und christlich verseucht sie sind…
Der liebe Gott mit der Kalaschnikow
7. Januar 2016
Natürlich ist das neueste Titelblatt von „Charlie Hebdo“ höchst undifferenziert und plump. Aber was ist da schon dabei? „Charlie Hebdo“ stand von allem Anfang an nie für differenzierte, ausgewogene und konstruktive Analyse, sondern stets nur für zynische, verletzende und destruktive Verspottung von allem, was sich irgendwie durch den satirischen Dreck ziehen liess. (vgl. dazu "Der Schreibtischtäter als Opfer") Und in einer offenen Gesellschaft muss doch so etwas auch Platz haben, weil es ja durchaus eine Funktion erfüllt: nämlich die, ein Lachen zu provozieren, das im Hals stecken bleibt und so zum Denken anregt.
Und eben: lustig finde ich den göttlichen Terroristen halt doch: nicht nur, weil er toll gezeichnet ist, nicht nur, weil hier verbohrte, laizistische Fundamentalisten plötzlich die sehr orthodoxe Voraussetzung einer unfassbaren, göttlichen Allgegenwart machen. Sondern besonders, weil hier ein brutales Gottesbild aufgenommen wird, das in der Bibel nun wirklich nicht marginal ist, sondern in ganz zentralen Texten ganz schamlos vorausgesetzt wird. Ungebildet waren ja die Zyniker von "Charlie-Hebdo" weissgott noch nie...
Vielleicht sollten all jene gutbürgerlichen Christen, die sich seit drei Tage über die Zeichnung von „Charlie-Hebdo“ echauffieren, wieder einmal ein wenig in ihrer Bibel blättern, sie kämen dabei so ziemlich auf die Welt: da fänden sie schon im ersten Buch der heiligen Schrift z.B. in der Sintflutgeschichte einen verärgerten, weil überforderten Gott, der in einer Affekthandlung, die er nachträglich dann bereut, gleich die ganze Weltbevölkerung (bis auf eine Familie) durch Ersäufen genozidiert (Gen 6-9). Ein Buch weiter, im berühmten Deborah-Lied (Ex 15), träfen sie dann auf einen ebenso masslosen Amok-Gott, der zur Verteidigung einiger arbeitsscheuer Asylanten gleich die halbe Natur zu Hilfe nimmt, um die ägyptische Hochkultur zu bodigen. Und wenn diese zartbesaiteten Christenmenschen dann, durch so viel altorientalische Brutalität angewidert, zu ihrem „lieben Gott“ Zuflucht suchten, würden sie z.B. im Psalmenbuch – dem Fundament des christlichen Gebets – als Trost solche Sätze lesen, wie: „Der Herr steht an deiner Seite, er zerschmettert am Tag seines Zorns die Könige, er hält Gericht und stapelt die Leichen auf, er zerschlägt weit herum auf der Erde die Schädel – kurz nur trinkt er aus dem Bach am Wegrand und erhebt dann wieder sein Haupt.“ (Ps 110, durch die ganze europäische Musikgeschichte hindurch dutzendfach vertont).
Kurz, was soll's: mir scheint, neben der biblischen Kriegsgurgel sieht der geduckte Terrorist von „Charlie-Hebdo“ mit seinem Kalaschniköwchen auf dem Rücken, doch ziemlich harmlos, ja schon fast niedlich aus. Auch Dürrenmatts „Weltmetzger“ wäre wohl um einiges gefährlicher – und über den hat sich seit 50 Jahren noch kaum jemand empört, obwohl er weniger lustig ist und damit auch blasphemischer. Aber das ist halt Kunst, und die darf bekanntlich alles...
Von der verwirrenden Kunst des Weglassens
25. November 2015
Die FIDS (Föderation Islamischer Dachorganisationen der Schweiz) hat am Tag nach den Attentaten von Paris in einer Pressemitteilung „diese abscheulichen und feigen terroristischen Attacken und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufs Schärfste verurteilt. Das ist beruhigend und ermutigend.
Nur eben: an den Anfang ihrer Mitteilung setzt die FIDS den immer wieder bemühten Satz:
«Wer einen Menschen tötet, dann ist es als hätte er die ganze Menschheit getötet. Und wer einem Menschen das Leben rettet, dann ist es, als hätte er die ganze Menschheit gerettet.» Koran 5, Vers 32
Dieses Zitat ist beunruhigend und verwirrend und man muss sich wirklich fragen, was sich die Autoren der Mitteilung bei diesem Satz gedacht haben. Wieso?
Als gläubige Muslime müssen die 15 unterzeichnenden Herren den Qorantext doch kennen (womöglich sogar auswendig). Also müssen sie doch wissen, dass der Satz so, wie sie ihn zitieren, nicht im Qoran steht und dass er nur deswegen so friedfertig tönt, weil man ihn immer zensuriert und zurecht schneidet. Unbeschnitten ist der Qoranvers 5,32 von den Kommentatoren schon immer als Rechtfertigung für die Tötung Andersdenkender und Anderslebender zitiert worden und er kann deshalb durchaus als Rechtfertigung der Pariser Attentate zitiert werden.
In der Tat, wenn man im Koran die Stelle 5,32-34 nachliest (diese drei Verse bilden eine nicht auftrennbare Texteinheit), so kommt man schon ziemlich arg ins Sinnieren:
Als Kommentar zur eindrücklich dramatisierten Nacherzählung der biblischen Geschichte von Kain und Abel (Q 5,27-31) will V. 32 zunächst einmal erklären, wieso Kain zu guter Letzt (in V. 31) die Verwerflichkeit seiner Tat eingesehen und diese bereut hat:
„(32) Von diesem Moment (der Tötung des unschuldigen Abels) an haben wir (Gott) im Zusammenhang mit den Kindern Israels schriftlich festgehalten, dass, wenn irgendjemand einen einzelnen Menschen tötet – und zwar nicht (aus Rache für) einen Menschen oder wegen einer Verdorbenheit auf Erden – dann ist es, wie wenn er alle Menschen getötet hätte und wenn er ihn lebendig macht, so ist es, wie wenn er alle Menschen lebendig machte. Ja wirklich, unsere Gesandten sind zu ihnen gekommen mit klaren Beweisen. Und doch: viele von ihnen waren weiterhin masslos auf Erden.“
Man merkt es schon beim ersten Durchlesen: die sehr einfühlsame und eingängige Begründung für die Verwerflichkeit der Tötung eines Menschen, die - wie es der Text ja andeutet - bereits in der Mischna (Sanhedrin IV 5) zu lesen ist, gilt im Qoran - anders als in der jüdischen Tradition, aus der sie übernommen wird - nicht uneingeschränkt. Und just diese Einschränkungen, die in der üblichen Wiedergabe des Verses immer – auch vom FIDS - unterschlagen werden, sind nicht nebensächlich! Einmal will man sich die vendetta nicht vermiesen lassen und besonders: Menschen, die auf Erden „Verdorbenheit“ verbreiten sind offensichtlich vogelfrei. Und genau zu denen driftet das Interesse am Schluss des Verses dann auch ab. Das ist nicht erstaunlich, denn was die machen, ist für jeden Gläubigen extrem alarmierend: das Wort für „Verdorbenheit“ (fasad) weist nämlich in einen schwülen, unmoralischen Sumpf von Fäulnis, Zersetzung, Korruptheit, Lasterhaftigkeit und Dekadenz. Die folgenden Verse 33 und 34 führen dann aus, wie mit Leuten zu verfahren sei, die in diesem widergöttlichen Sumpf stecken und ihn sogar noch propagieren:
„ (33) Der Lohn derer, die gegen Gott und seinen Gesandte Krieg führen und die auf Erden Verdorbenheit herumlaufen lassen, ist, dass sie getötet werden oder dass sie kreuzigt werden oder dass ihre Hände und Füsse wechselweise abgehauen werden oder dass sie aus dem Land verbannt werden. Das ist ihre Schande im Diesseits. Und im Jenseits haben sie eine gewaltige Strafe zu gewärtigen – (34) ausgenommen diejenigen, die umkehren, bevor ihr Gewalt über sie habt. Da müsst ihr wissen, dass Gott bereit ist zu verzeihen und barmherzig.“
Das ist der Vers, auf den man sich seit jeher stützt, um Apostaten und Islambeleidiger zu liquidieren. Und ausgerechnet das ist auch der Text, den die Verantwortlichen der FIDS vor Augen oder im Gedächtnis hatten und haben mussten, als sie die Pariser Attentate verurteilten. Was also wollten sie mit ihrem zensurierten Zitat eigentlich sagen? Es ist ja allzu offensichtlich, dass die „Verdorbenheit“, die der zitierte Vers - unzensuriert, so wie er im Qorantext steht - zum Abschuss freigibt, genau die Lebenshaltung ist, die Paris in den Augen islamistischer Fanatiker symbolisiert. Was also soll das Zitat?
Ich sehe nicht allzu viele mögliche Antworten. Entweder soll das beschnittene Zitat signalisieren: "Das ist für uns der verbindliche Sinn dieses Verses, die brutalen Einschränkungen lassen wir weg, es sind historische Entgleisungen, die für uns nicht mehr verbindlich sind." Das wäre eine reformistische, ja revolutionäre Qoranlektüre, die mir angesichts der unterzeichnenden Personen und Gruppierungen ganz unwahrscheinlich scheint. Oder aber man dachte sich: "Wir zitieren den Qoran nur ungefähr, die nichtmuslimischen Leser wird das beeindrucken und nachschlagen wird schon niemand. Und wenn strenggläubige Muslime nachfragen, können wir dann immer noch sagen, wir hätten natürlich den ganzen Vers gemeint - und ja, die verdorbenen Sumpfexistenzen seien in Paris ganz zurecht umgenietet worden." Das wäre eine listige, aber doch sehr verlogene Position, die ich den Autoren eigentlich auch nicht zutraue. Bleibt noch die Möglichkeit, dass das Qoranzitat bloss als dekorativer Firlefanz eingefügt wurde und man es damit gar nicht so ernst meinte. Wenn aber die offiziellen Vertreter der Schweizer Muslime einen Qorantext anführen, aber nicht wirklich ernst meinen, wie soll man ihnen dann abkaufen, dass sie ihre Presseerklärung als Ganze ernst gemeint haben...
Homosexualität in
der Bibel
Im Nachgang zu einem dümmlichen Referätlein des Bischofs von Chur tobt in den Medien seit Wochen ein Streit über die Homosexualität in der Bibel. Wer in diesem Zusammenhang auf die löbliche Idee kommt, die paar wenigen Stellen nachzuschlagen, die immer wieder genannt werden, kommt beim Lesen recht auf die Welt: wie es scheint, interessiert sich die Bibel zwar kaum für das Thema, aber wenn sie ausnahmsweise mal davon redet, dann teilt sie tüchtig aus. Meint man. Wie so oft, trügt auch hier der Schein und der erste Eindruck ist falsch.
Der französische Althistoriker Paul Veyne unterscheidet für die römische Antike zwischen einer „Homosexualität des Wunsches“ und einer „Homosexualität der Lust“: erstere bezeichnet homosexuell veranlagte Menschen, letztere hingegen Heterosexuelle, die sich umständehalber, um schnell auf ein Lüstchen zu kommen, an gleichgeschlechtlichen Lustobjekten vergreifen – in der römische Antike offensichtlich eine häufige Praxis.
Schlägt man mit dieser Unterscheidung im Hinterkopf die berüchtigte, scheinbar homophobe Stelle im Römerbrief (1,26f) auf, so stellt man mit Staunen fest, dass Paulus dort genau gegen diese „Homosexualität der Lust“ vom Leder zieht: die römischen Frauen haben den „natürlichen“ (d.h. den ihrer individuellen heterosexuellen Veranlagung entsprechenden) Gebrauch der Sexualität vertauscht mit einem Gebrauch, der an ihrer Natur vorbei geht und auch die Männer haben den ihrer individuellen Natur entsprechenden Gebrauch (naja!) der Frauen aufgegeben, um strohfeuerartig für männliche Ersatzobjekte zu entbrennen. Man kann aufatmen: Paulus hat gar nichts gegen homosexuell empfindende Menschen gesagt, sondern nur eine damals verbreitete (und auch heute für uns reichlich seltsame) Mode heterosexueller Lustmolche abgeschossen. Und dabei hatte er nicht einmal um eine ethische Absicht: Wie der Zusammenhang zeigt, geht es Paulus am Anfang des Römerbriefes ausschliesslich um eine Kritik an der römischen Vielgötterei - bei der die vermeintlich gebildeten Römer sich erblöden, statt des jenseitigen Gottes die plumpen Statuen von Kaisern oder Tieren anzubeten. So vertauschen sie die natürliche Religiosität gegen eine widernatürliche, politische Modereligion. Und Gott straft sie dann dafür, indem er sie dazu bringt, ihr natürliches sexuelles Empfinden durch eine lachhafte, widernatürliche Praxis auszutauschen.
Erstaunlicherweise passt Veynes Unterscheidung aber auch auf die scheinbar homophoben Stellen aus der hebräischen Bibel: in den Horrorgeschichten aus Sodom (Gen 19) und Gibea (Ri 19) wollen ja pöbelnde Lüstlinge fremde Gäste vergewaltigen. In beiden Fällen wird als „Lösung“ die Verfütterung von Frauen vorgeschlagen und dieser (für uns heute reichlich seltsame) Ausweg wäre völlig sinnlos, wenn die Vergewaltiger echte Homosexuelle wären.
Auch die beiden Levitikusstellen (18,22; 20,13), die den Gnädigen Herr aus Chur so begeistern, werden dank Veynes Unterscheidung plötzlich bis ins Detail der Formulierung hinein verständlich: verurteilt werden dort nämlich „Männer“, die mit einem „Männchen“ schlafen, und zwar „im Ehebett einer Frau“ – und das passt am besten auf Heterosexuelle, deren Ehefrauen gerade nicht „zur Hand“ sind und die daher das erstbeste männliche Sexualobjekt in ihr Ehebett zerren.
So bleibt „um der Frage der Homosexualität aus der Sicht des Glaubens die rechte Wende zu geben“ (was der ebengenannte Gnädige Herr ja so gern möchte) in der Bibel nur noch das Geturtel von David und Jonathan (1 Sam 18f). Ich vermute, letzterer war ein echter, praktizierender „Homosexueller des Wunsches“ und über den sagt der Text gottlob kein böses Wort....
Damit scheint mir klar: "die Bibel" hat zur menschlichen
Homosexualität und zu deren ethischen Beurteilung keine Meinung. Wenn man also heute "aus der Sicht des Glaubens" dazu Stellung nehmen will, kann und muss man sich ganz auf die menschliche
Vernunft (und damit ist natürlich auch gesagt: auf die heutigen humanwissenschaftlichen Einsichten) stützen. Und die redet nicht ex cathedra und auch schwerlich aus Chur...