1. Das Bild, das man sich von Maria, der Mutter Jesu, macht, schwankt seit Jahrhunderten zwischen zwei Extremen: in ihrem irdischen Dasein erscheint sie als zurückgezogenes, demütiges und auch leicht naives Landmädel, nach ihrer «Entschlafung» wird sie weit über das im Dogma der Himmelfahrt hinaus Gemeinte «in den Himmel gehoben» - als «Himmelskönigin», als «Miterlöserin», gar als faktisch vierte Person einer göttlichen Quaternität.
Ein typisches Beispiel für diesen Gegensatz ist die Beschreibung, die Antonio Rosmini (1797-1855) in seinen «Grundsätzen der Vollkommenheit» (Lez. VI, Nr.7) von ihr gibt:
Der Christ muss jederzeit die tiefe Demut der Jungfrau Maria vor Augen haben und nachahmen: So, wie sie uns in der heiligen Schrift beschrieben wird, sehen wir nämlich Maria immer in einer Stille, in einem Frieden, in einer ununterbrochenen Ruhe. Sofern sie ihr Leben wählt, ist es nichts als bescheiden, zurückgezogen und still, und daraus wird sie nur herausgeholt durch die Stimme Gottes oder durch ihren Sinn für Nächstenliebe ihrer Base Elisabeth gegenüber. Wenn man menschliche Massstäbe anlegt - wer könnte glauben, dass wir vom vollkommensten der menschlichen Geschöpfe in der heiligen Schrift so wenig hören? Keine einzige Unternehmung wird von ihr berichtet: ein Leben, das die blinde Welt schlicht als tatenlos bezeichnen würde und das Gott als das höchste, tugendhafteste und edelste aller Leben bezeichnet hat. Wegen dieses Lebens wurde dieses demütige und unbekannte Mädchen vom Allmächtigen zur höchsten aller Würden erhoben und in eine Herrlichkeit gesetzt, die er keinem der Menschen und keinem der Engel sonst verliehen hat.
2. Diese gegensätzliche Einschätzung Mariens kommt natürlich auch in der christlichen, vorab die römisch-katholische Ikonographie zum Ausdruck und wurde durch diese eingängige Anschaulichkeit wohl auch gewaltig verstärkt und verfestigt.
Einerseits gab die «Krönung Mariens» immer wieder Anlass zu Darstellungen, in denen neben Gottvater und Gottsohn die unscheinbare Taube des hl. Geistes schon rein ikonographisch durch die Gottesmutter verdrängt wird. So entstand für den oberflächlichen Betrachter der Eindruck einer Trinität aus Vater, Mutter und Sohn, die psychologisch natürlich sehr naheliegend ist (und zu der es auch religionsgeschichtliche Vorprägungen gibt). Ein zweiter, geübterer Blick legte dann höchstens eine göttliche Quaternität nahe, bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Geist. C.G. Jung hat gezeigt, dass ein solches Gottesbild psychologisch sehr stabilisierend auf die Gläubigen wirkt, aber im Rahmen der christlichen Tradition ist es doch recht problematisch…
Andererseits förderten die Darstellungen der säugenden Madonna die Reduktion Mariens auf ihre Mutterschaft, was natürlich auch wieder besonders für Frauen psychologisch sehr anziehend war (und wiederum religionsgeschichtlich tiefe Wurzeln hatte). Als vom 17. Jhd. an schliesslich die Herz-Jesu- und Herz-Marien-Frömmigkeit sich immer mehr ausbreitete, konzentrierte sich allmählich das Marienbild auf die Herzensreinheit einer jungen Frau. Nicht nur das Kind verschwand damit aus den Darstellungen, sondern auch das Buch, in dem Maria in den Darstellungen der Verkündigung immerhin sehr häufig gelesen hatte. Damit war die naive Kindfrau, die wohl nicht viel mehr zu bieten hatte, als ihre natürliche Unschuld, Wirklichkeit geworden.
Gegen die Macht dieser Bilder, die landauf landab in Kirchen und Kapellen die religiöse Praxis begleitet und bestätigt haben, hat in der katholischen Kirche auch der biblische Aufbruch des 20. Jhd. nicht viel ausrichten können. (Natürlich hat dies, nebenbei bemerkt, tiefer liegende, psychologische Gründe, denn die Aufsplitterung Mariens entspricht genau dem Frauenbild des Patriarchats: dort das erhabene, vergöttlichte Ewig-Weibliche, zu dem man theoretisch in Bewunderung und Verehrung aufblickt und hier das niedlich-fügsame Ding, das sich praktisch, so hofft man, beherrschen und gebrauchen lässt.)
Wenn man aber die wenigen neutestamentlichen Stellen, an denen Maria ihren Auftritt hat, genau liest, merkt man sehr schnell, dass dieses traditionelle katholische Marienbild ziemlich schief ist, jedenfalls soweit es die historische Person der Mutter Jesu betrifft, so wie sie sich hinter den neutestamentlichen Texten vermuten lässt.
3. Das sieht man schon beim ersten und umfangreichsten Text: der Verkündigung der Geburt Jesu, wie sie Lukas darstellt (Lk 1:26-56). Gerade dieser Text hat das klassische Marienbild geprägt, wie kein anderer, und zwar, weil man ihn nur zur Hälfte las: man brach die Lektüre mit dem Weggang des Engels in v. 38 ab. So wurde der Satz «Ich bin die Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort» zum Schlusssatz der Szene und bekam damit besonderes Gewicht. Im marianischen «Fiat!» sah man die Grundhaltungen jedes Christen (besonders aber jeder Christin!) zusammengefasst: Bescheidenheit, Unterwürfigkeit, Ergebung in Gottes Willen. Dabei übersah man aber geflissentlich, dass der Text mit dem Weggang des Engels überhaupt nicht abbricht, ganz im Gegenteil: Maria steht auf (und zwar gleich, nicht «nach einigen Tagen», wie die Einheitsübersetzung behauptet) und geht ihrerseits weg, sie läuft «mit Eile» zu Elisabeth. Wieso? Man nimmt meist an: um der alten, schwangeren Cousine als demütige Magd beizustehen. Davon steht aber nichts im Text und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass es primär darum ging, denn sonst wäre die wahrscheinliche Anwesenheit Mariens bei der Niederkunft ihrer Cousine nicht bloss angedeutet worden – wenn überhaupt (vgl. vv. 36 und 56 mit v.57!). Auch dass Maria – wie später die unglückliche Héloîse – aus Scham oder aus Furcht vor dörflichem Tratsch und Verfolgung nach Süden geflohen wäre kann man dem Text nicht entnehmen. Mir scheint der Aufbruch Mariens gleich nach dem Weggang des Engels viel einfacher zu erklären: sie will eilends das Zeichen, das ihr der Engel gegeben hat, nachprüfen gehen - genau wie sich kurz darauf auch die Hirten beeilen werden, das Zeichen der Engel sofort zu kontrollieren.
Hier scheint es mir überhaupt sehr aufschlussreich, die Unterschiede zu beachten, die Lukas in der Darstellung seiner drei Engelserscheinungen macht. Die Hirten geraten beim Auftritt des Engels gleich in Panik (Lk 2:9) und sie bringen während der ganzen Erscheinung kein Wort hervor. Zacharias ist beim Anblick des Engels verwirrt und bekommt es ebenfalls mit der Angst zu tun (Lk 1:11f). Dann wagt er es immerhin, zu maulen, wie sich das gattungsspezifisch bei Berufungen gehört. Er formuliert seine naheliegenden Bedenken freilich so plump und so direkt, dass ihn der Engel gleich mit Stummheit schlägt. Und Maria? Sie ist zwar zunächst auch verwirrt, aber nicht über den Engel, sondern über die Formulierung seines Grusses, den sie gleich einer stillen Exegese unterzieht, statt sich ordentlich zu fürchten (Lk 1:28f). Der gattungsspezifische Protest fehlt auch bei Maria nicht, nur geht das vermeintlich naive Landmädel dabei viel cleverer vor als der ehrwürdige Priester Zacharias: sie konfrontiert zwar den Engel mit ganz genau derselben biologischen Unmöglichkeit, wie Zacharias, nur formuliert sie es viel bescheidener und naiver und entgeht so der Strafe.(Noch Jahrhunderte später explodierte der predigende Augustinus förmlich vor Begeisterung, wenn er auf diese marianische Frage und besonders auf die tiefe Sorge um die Jungfräulichkeit, der sie in seinen Augen entsprang, zu sprechen kam.) Daraus sieht man: Lukas stellt hier Maria (z.T. dank expliziter Übernahmen) in eine Reihe mit jenen listigen, furchtlosen und rhetorische beschlagenen Frauen, die das Alte Testament von Anfang bis Ende bevölkern und die dann in der christlichen Typologie auch tatsächlich zu «Präfigurationen» der Jungfrau Maria wurden.
Deren Anzahl ist für ein gewiss patriarchalisches Zeitalter erstaunlich hoch: angefangen bei Eva, die es wagt, hinter Adams Rücken mit der Schlange zu konferieren (Gen Gen 3:1-6), dann aber auch Sarah, die Gott durch ihr Lachen auf die Palme jagt (Gen 18:9-15), Rebekka, die ihren Gatten hinters Licht führt (Gen 27:5-17), Rahel, die ihren eigenen Vater ausraubt (Gen 31:19-35), Schifra und Pua, die dem Pharao trotzen (Ex 1:15-22), Deborah, die als graue Eminenz einen Heerführer und damit ein ganzes Heer kommandiert (Ri 4:4-15), Yael, die mit viel Charme einen Militärkopf festnagelt (Ri 4:17-22; 5:24-31), die Frau des Manoach und ihre Schwiegertochter Delila, die beide ihre Männer ziemlich dumm aussehen lassen (Ri 13;16), Abigail, die Frau des «schlauchdummen» Nabals (1 Sam 25:14-42), die anonyme Frau von Tekoa, der sogar David in den Hammer läuft (2 Sam 14:1-20), bis hin zu Ester und Judith, die ihr Volk befreien (Est; Jdt).
4. Mir scheint freilich, Maria stehe nicht nur an unserer Stelle und nicht nur bei Lukas in einer Reihe mit diesen cleveren Frauen. Die wenigen Male, wo sie im NT in Erscheinung tritt, ist sie nie bloss Anhängsel ihres Gatten, ihres Sohnes oder der «Brüder» ihres Sohnes, immer ergreift sie selbst die Initiative.
Das sieht man schon in Lk 2:48, wo es darum geht, den 12-jährigen (also eben gerade mündig gewordenen!) Jesus zur Ordnung zu rufen: da greift sie sehr unzimperlich an und redet auch gleich im Namen des Vaters, der nicht einmal zu Wort kommt. Auch – ja gerade, wenn diese Episode nicht historisch ist, zeigt sie doch, welches Bild man von Maria hatte: das einer dominanten und zielstrebigen Frau. Einen theologischen oder literarischen Grund dazu hatte man nicht, also wird dieses Bild vom Eindruck gespiesen sein, den die historische Person Mariens in der frühen Kirche hinterlassen hat. Jedenfalls wurde Jesus schon von seinen Landsleuten in Nazareth als «Sohn der Maria» und nicht als Sohn des Josefs wahrgenommen (Mk 6:3).
In die gleiche Richtung weist auch bei Johannes der Auftritt Mariens an der Hochzeit in Kana (Joh 2:1-11). Sie ist dort eingeladen (wohlgemerkt nicht als Begleiterin ihres Sohnes – es ist eher umgekehrt, v. 1f) und obwohl sie nur Gast ist, mischt sie sich unvermittelt in die Organisation des Festes ein. Das war womöglich nicht nur ihrem Sohn eher peinlich, wie dessen schroffe Antwort in v.4 vermuten lässt, es scheint noch heute ziemlich schamlos. Und doch - in der Bibel gibt es eine Frau, der man eine solche Intervention problemlos zumuten würde: es ist die «dynamische Frau» aus Spr 31:10-31: sie hat von früh bis spät immer alles im Griff und der Text meint: das muss so sein, das ist ein Vorbild für jede Frau. Wieso sollte Maria als historische Person nicht diesem biblischen Idealbild einer Frau entsprochen haben? Jedenfalls kommt man plötzlich zu sehr überraschenden und neuen Einsichten, wenn man das versuchsweise voraussetzt.
5. Da ist etwa jene seltsame Stelle in Mk 3:21.31-32, wo die Angehörigen Jesu ihn zurückholen wollen. Es ist die einzige Begegnung (oder besser: Fast-Begegnung) zwischen Jesus und seiner Mutter bei den Synoptikern (abgesehen von der Kindheitserzählung des Lukas). Da kommen also eines Tages «seine Mutter und seine Brüder» (man beachte die Reihenfolge!) und wollen mit Jesus reden (Mk 3: 31). Er reagiert sehr unwirsch auf dieses Ansinnen, das ihn mitten in einer Unterweisung stört. Statt seine Angehörigen zu empfangen, demütigt er sie in aller Öffentlichkeit, indem er den Begriff der Familie theologisch ausweitet auf alle, die Gottes Willen tun. Diese Umdeutung begeistert die Leserschaft, zumal die Exegeten bis heute dermassen, dass darob die Frage kaum je gestellt wird, was denn eigentlich die Angehörigen von Jesus wollten.
Markus verknüpft deren Intervention seltsamerweise mit dem wachsenden Erfolg Jesu, dessen Entstehung er Schritt für Schritt nachzeichnet: Jesus löst sich zunächst vom Täufer Johannes, dessen Schüler er wohl gewesen war, kehrt nach Galiläa zurück und beginnt dort auf eigene Faust zu predigen (1:14-15); am See Genesareth, im Milieu der Berufsfischer (die klar als Teilhaber von familieneigenen KMUs vorgestellt werden) findet er erste Anhänger (1:16-20); deswegen wohl setzt sich Jesus nicht in seinem Heimatort, sondern in Kafarnaum fest – damals wohl eine sehr unübliche Entscheidung (1:21-28); seine Predigt ergänzt er mit einer Heilungstätigkeit – erst im engeren Jüngerkreis (1:29-31), dann in Kafarnaum selbst (1:1:32-34) und schliesslich in den umliegenden Ortschaften (1:35-45). Hier kommt es erstmals zum Konflikt mit Schriftgelehrten und Pharisäern (2:1-12). Grund dafür ist nicht nur die lockere Gesetzesauslegung Jesu (2:18-22: Fasten: 2:23-3:6: Sabbat), sondern auch dessen skandalöser Kontakt zu «Zöllnern», also jenen Steuerpächtern, die mit der römischen Besatzung kollaborierten. Dadurch steigen aber sein Ansehen und sein Erfolg beim Volk nur noch mehr - und zwar so sehr, dass Jesus aus seinen frühesten und engsten Anhängern eine Art Beirat bildet (3: 13-19). Natürlich hatte dieser «Zwölferkreis», wie die Zahl vermuten, lässt eine religiöse Bedeutung, bekam aber bestimmt auch administrative, organisatorische oder polizeiliche Funktionen (6:35-44; 10:13). Etwas ähnliches haben die Zwölf später auch tun müssen, wie man aus Apg 6:1-7 erfährt.
Doch just in dem Moment, wo Jesus seiner Bewegung durch eine etwas festere Struktur mehr Stabilität verleiht und dabei so viele Menschen anspricht, «dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten» (3:20), fällt bei Markus der Satz: «Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: er ist verrückt» (3.21). Das ist gewiss ein hartes Urteil und ein drastisches Vorgehen. Wenn man nun aber voraussetzt, dass Maria, die Mutter Jesu dem Idealbild der «dynamischen Frau» von Spr 31 entsprach, ist es so unverständlich nicht. Und zwar, um es kurz zusammenzufassen, aus folgenden Gründen:
6. Jesus hat seine ersten Anhänger im Milieu der Kleinunternehmer gefunden (vgl. oben). Es ist also nicht abwegig anzunehmen, dass er selbst aus demselben Milieu stammte. Das heisst: Joseph war wohl nicht einfach ein kleiner Dorfschreiner in Nazareth und Jesus hat ihm kaum 30 Jahre lang lächelnd und mit gefalteten Händen beim Werkeln zugeschaut und bisweilen ein Brett gehalten, um ihm das Hobeln zu erleichtern, wie das die «Nazarener» auf ihren idyllischen Bildern darstellen. Joseph war wie auch sein Sohn «tekton», d.h. «Baufachmann» (vgl. Mk 6:3). Es ist also durchaus denkbar, dass er - wie etwa Zebedäus - ein familiäres KMU besass, das man sich gut als «Generalunternehmen» im Baubereich vorstellen kann. Vielleicht betrieb er dieses Unternehmen zusammen mit seinen Brüdern, was nebenbei auch die Wichtigkeit der «Brüder Jesu» - in der katholischen Deutung von «Cousins» - erklären würde (vgl. ebd.). Es ist auch denkbar, dass die Familie tatsächlich ursprünglich aus Bethlehem stammte und dann aus wirtschaftlicher Opportunität in den Norden zog, in die Nähe grosser herodianischer Baustellen wie Caesarea Maritima oder Sepphoris (deren Wiederaufbau nach dem Tod von Herodes d.Gr. begann, also genau zu dem Zeitpunkt, an dem laut Mt 2:22f Joseph mit seiner Familie nach Galiläa zog). Auch das plötzliche Verschwinden Josephs aus den neutestamentlichen Texten heisst dann nicht zwingend, dass er lange vor Maria starb, weil er um Jahrzehnte älter war als sie. Es könnte auch bedeuten, dass er ungefähr gleich alt war wie sie, dass er aber schon in jungen Jahren Opfer eines tödlichen Arbeitsunfalls wurde, was im Baubereich schnell mal möglich ist. Dies würde vielleicht auch psychologisch verständlich machen, wieso Jesus dann seine Gottesbeziehung so stark auf das Bild des Vaters fokussiert hat. Wenn nun Maria der dynamischen Frau von Spr 31 glich, kann man problemlos annehmen, dass sie es war, die nach dem Unfalltod ihres Gatten die Leitung der familiären KMU übernahm, d.h. ihren Sohn und ihre Neffen (und wohl auch ihre Schwager) herumkommandierte. Anders als seine «Brüder» hat Jesus aber wohl sehr früh sein Leben nicht nur um Baufragen herum organisiert – ein Hinweis darauf ist (neben der lukanischen Erzählung vom 12-jährigen im Tempel) der Umstand, dass er nicht geheiratet hat. Er wird vielleicht schon immer neben seiner beruflichen Tätigkeit nach essenischer Art von Zeit zu Zeit «Weiterbildungsferien» eingeschoben haben und ist wohl in diesem Zusammenhang mit dem Täufer Johannes in Berührung gekommen. Mit Dreissig – d.h. für damalige Verhältnisse, wo man mit 12 mündig wurde: im Grossvateralter – hat er sich offenbar konsequenter dem Täufer Johannes angeschlossen. Nach wohl nicht allzu langer Zeit hat er diesen Bussprediger, der ihm wohl zu hart auftrat, zusammen mit einigen Mitschülern wieder verlassen (vgl. Joh 1:38), um auf eigene Faust zu predigen. Solange diese Predigttätigkeit noch spontan und kaum organisiert war und Jesus vielleicht auch zwischendurch wieder in Nazareth auftauchte, um in der Firma zu arbeiten, übte man sich daselbst in Geduld, denn man konnte hoffen, diese fromme «midlife-crisis» würde irgendwann wieder vorübergehen. Als dann aber endgültig klar wurde, dass sich die «Jesus-Bewegung» strukturierte und durchschlagenden Erfolg verzeichnete, dass Jesus also dem Familienunternehmen definitiv den Rücken kehren würde, beschlossen «seine Mutter und seine Brüder», diesen verlorenen Sohn mit Gewalt zurückzuholen. Was, wie man weiss, misslang.
7. Das alles ist natürlich reichlich hypothetisch – allerdings ist auch die klassische Vorstellung von einer blutjungen, sanften und naiven Maria, die mit einem greisenhaften Dorfschreiner zwangsverheiratet wird, nicht weniger hypothetisch. Und mir scheint, die Hypothese einer Maria als dynamische Frau nach Spr 31 würde, wie eben dargelegt, einige Aspekte, die sonst unerklärt bleiben, beleuchten. Sie würde sogar erlauben, eine m.E. befriedigende Antwort zu geben auf die leidige Frage, ob Johannes in 19:25-27 Maria eventuell nur aus theologischen Gründen und gegen jede historische Wahrscheinlichkeit unters Kreuz gestellt hat: Dass Maria als dynamische Frau zusammen mit ihren Neffen ihrem Sohn in dem Moment nachgereist wäre, als dieser beschlossen hatte, seine Lehre nicht nur in Galiläa, sondern auch am Osterfest in Jerusalem vorzustellen, ist durchaus nicht unwahrscheinlich. (Die hl. Monika, die ähnlich strukturiert war, hat ihren Sohn Augustinus schliesslich auch von Nordafrika bis nach Mailand verfolgt.) Also stand Maria wohl tatsächlich unter dem Kreuz. Und schliesslich sass sie wohl tatsächlich - samt ihren Neffen, von denen Jakobus dann in der frühen Kirche eine bedeutende Rolle spielen sollte - bei den Jüngern, wie es Lukas eigens vermerkt (Apg 1:14).
8. Um zum Schluss die Titelfrage zu beantworten: Ich bin überzeugt, dass Maria keine sanftmütige Person war. Das ist wohl auch der Grund, wieso man im ganzen NT keine Stelle findet, die zeigen würde, dass Jesus, der als «Sohn Mariens» galt (Mk 6:3), zu ihr ein besonders inniges Verhältnis gehabt hätte – im Gegenteil, die enervierte Abfuhr, die er in Lk 11:27 einer frühen Marienverehrerin erteilt, spricht da Bände. Auf der andern Seite darf man daraus aber nicht schliessen, Maria hätte die Demut gefehlt, die die Kirche als ihre Grundhaltung stets betont und als vorbildlich erklärt hat. Demut ist das Bewusstsein der eigenen Nichtigkeit vor Gott und setzt nicht zwingend Sanftmut voraus. Im Gegenteil: Die Kirchengeschichte wimmelt sogar von Heiligengestalten, die alles andere als sanftmütig waren und die nur deswegen heilig und damit vorbildlich wurden, weil sie ihre demütige Unterwerfung unter den göttlichen Willen einer schwer zähmbaren Natur abgerungen hatten.
Kurz und gut: Maria als historische Person entsprach sicher nicht dem süsslichen Bild, das die Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts von ihr entwarf. Aber dafür verdiente sie als dynamische Frau umso mehr jene herausragende Stellung, die ihr die katholische Dogmatik zugesprochen hat.
Zum Schluss noch eine ganz persönliche Bemerkung: ich habe als Walliser italienischer Herkunft im Wallis und in Norditalien über ein Dutzend Grossmütter, Tanten und Cousinen gehabt, die ich z.T. nie ohne Kopftuch gesehen habe und die ziemlich genau dem weiblichen Idealbild von Spr 31 entsprachen (auch meine leider zu früh verstorbene Gattin gehörte dazu): es waren gewiss keine Feministinnen (dafür waren die meisten von ihnen zu früh geboren worden), dafür aber führten sie allesamt ein Leben als äusserst eigenständige Frauen und sie machten es ihren Männern dadurch nicht immer einfach… Sie standen praktisch in der Nachfolge der dynamischen Muttergottes, auch wenn sie in der Theorie natürlich deren süssliches Zerrbild verehrt haben. Ihrem Andenken seien deswegen diese paar Überlegungen gewidmet.
1. Das II. Vatikanische Konzil hat, im Gefolge der Enzyklika «Divino afflante Spiritu» von Pius XII. in der Offenbarungskonstitution (DV Nr. 12) stark betont, wie wichtig es sei, die literarischen Gattungen zu beachten, wenn man die Aussageabsicht der biblischen Autoren erfassen wolle. Mir scheint, die Tragweite dieser Position sei bislang in der Auslegung der Evangelien ziemlich unterschätzt worden. Das ist erstaunlich, denn die literarische Gattung «Evangelium» ist nicht nur die spezifisch christliche Erfindung, sie ist auch von zentraler Bedeutung, wenn es um das Verständnis des NT als heilige Schrift, d.h. als Wort Gottes an uns geht.
2. Die wichtigste Eigenheit der literarischen Gattung «Evangelium» ist, dass hier konkrete Erinnerungen an Taten und Worte des historischen Jesus und abstrakte theologische Deutungen, die ihn als «Christus», als Sohn Gottes und als Gott darstellen, auf eine und dieselbe Ebene verlegt und in eine einzige Erzählung gepackt werden.
Der Philipperhymnus (Phil 2:5-11) unterscheidet scharf zwischen dem «Jesus der Geschichte» und dem «Christus des Glaubens»: dieser «existierte in göttlicher Gestalt, hielt es aber nicht für einen unaufgebbaren Besitz, dasselbe wie Gott zu sein, sondern entleerte sich selbst», jener «nahm die Gestalt eines Knechtes an und wurde ähnlich den Menschen, er erniedrigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Deshalb hat Gott ihn erhöht…». Auch wenn Paulus im Präskript des Römerbriefs (1:3-4) vom Evangelium redet, unterscheidet er genau zwischen jenem «Sohn Gottes, der geworden ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch» und jenem, «der als Sohn Gottes abgegrenzt ist in Macht durch den Geist der Heiligkeit aus der Auferstehung der Toten». Markus als Evangelist hingegen erzählt in einem Atemzug, wie Jesus im Seesturm erst als Gott das Wasser tadelt und anschliessend als Mensch seine Schüler (Mk 4: 35-41).
3. Will man nun die Evangelien nicht einfach aus rein philologischem Interesse, sondern als Theologe lesen, muss man dies im Rahmen der christlichen Tradition tun. D.h. man kommt nicht umhin, bei der Deutung der Evangelientexte die dogmatische Definition von Chalzedon stets vorauszusetzen. Danach muss Jesus Christus «vollkommen in seiner Göttlichkeit und vollkommen in seiner Menschlichkeit» sein, «wahrer Gott und wahrer Mensch, bestehend aus Vernunftseele und Körper, identisch mit dem Vater nach der Göttlichkeit und identisch mit uns nach der Menschlichkeit, in allem uns gleich ausser der Sünde». Dabei sind die beiden «Naturen», die göttliche und die menschliche, «unvermischt, unverändert, unentfernbar und ungetrennt» in der einen Person Jesu zu denken (DS 301f).
4. Nun ist es jedoch klar, dass in den Evangelien das, was Jesus als Mensch tut, also seine menschliche Natur, und das, was er als Gott tut, also seine göttliche Natur, dauernd vermischt werden. Das gehört zur literarischen Gattung «Evangelium». Wenn man also die Evangelien im Rahmen der kirchlichen Tradition lesen will, muss man diese Vermischung als gattungsspezifische Eigenheit bei der Deutung des Textes berücksichtigen und das heisst: man muss sie wieder zurücknehmen, wenn man sich eine Vorstellung vom «Jesus der Geschichte» machen will, denn nur so ist dieser dann ein «wahrer Mensch», wie es die Definition von Chalzedon verlangt.
5. Als «wahrer Mensch» darf der «Jesus der Geschichte» den allgemeinen Horizont seiner Zeit und seiner Kultur grundsätzlich nicht überschreiten, er muss also in seinem Tun und seinem Reden ganz aus seiner damaligen Umwelt verstanden werden können. So viel ist der historisch-kritischen Methode zuzugestehen, nicht aus Sympathie zu ihren rationalistischen und agnostischen Voraussetzungen, sondern aus Treue zur dogmatischen Tradition der Kirche! Konkret heisst das: alles, was sich in den Evangelien nicht aus der damaligen Situation erklären lässt, muss als theologische Deutung verstanden werden. Das betrifft zunächst einmal natürlich die Wunder Jesu: historisch ist an ihnen nur das, was sich im damaligen Hellenismus, etwa bei einem «theios aner», auch hätte beobachten lassen.
In diesem Zusammenhang fällt folgendes auf: Bei den meisten Heilungswundern spielt der Glaube eine zentrale Rolle, etwa wenn Jesus zum Geheilten sagt: «Dein Glaube hat dich gerettet» (etwa Mk 5:34 u.ö.). Natürlich könnte man annehmen, das sei einfach ein Hinweis darauf, wie wichtig ganz allgemein das Vertrauen des Kranken in den Arzt für den Heilungsprozess sei. Aber als blosse Anspielung auf irgendwelche placebo-Effekte ist das Wort «Glaube» im NT dann doch zu belastet. Viel eher ist die Erwähnung des Glaubens hier ein Indiz dafür, dass Texte über Wunderheilungen nicht berichten wollen, wie einst Jesus Kranke geheilt hatte, sondern vielmehr die Rettung von Menschen verkünden, für die Gott in Christus Mitmensch geworden ist.
6. Das betrifft aber auch und besonders Bewusstsein und Wille Jesu: So, wie die klassischen Traktate «de scientia Christi» beides darstellen, entspricht es bestimmt nicht der Definition von Chalzedon. Ein «wahrer Mensch» besitzt weder das Wissen der Seligen, noch sieht er alles durch die göttliche Essenz (vgl. z.B. Thomas v. A., Summa III 9; Komp. Cap 216). Wie das Zusammengehen der beiden Naturen chalzedon-konform zu denken sei, ist eine Aufgabe, welche die Christologie zu lösen hat. Sie dürfte heutzutage viel einfacher als im Mittelalter zu bewältigen sein, seit S. Freud gezeigt hat, wie viel Unbewusstes in einer menschlichen Person schlummert. Danach müsste der göttliche Logos die menschliche Natur Jesu so «aufnehmen» («quod erat permansit, quod non erat assumpsit»), dass er zwar «unverändert, unentfernbar und ungetrennt» Subjekt aller menschlichen Handlungen Jesu wird, ohne indes (vor der Auferstehung) die Schwelle seines Bewusstseins in seinem Wissen und seinen willentlichen Entscheidungen je zu überschreiten. So lässt sich verhindern, dass in Jesus göttliche und menschliche Natur vermischt werden und dass er dauernd als Halbgott vor seine Jünger tritt - was eine monophysitische Häresie wäre. Auch die Evangelien darf man also nicht solchermassen monophysitisch deuten. Man muss im Gegenteil die rein gattungsspezifische Vermischung der beiden Naturen rückgängig machen, wenn man den «Jesus der Geschichte» beschreiben will.
7. Wie der «Jesus der Geschichte» und der «Christus des Glaubens» beide zusammen in einem streng chalzedon-konformen «Evangelium» hätten dargestellt werden können, kann man paradoxerweise bei Flavius Josephus im berühmten «Testimonium Flavianum» (Ant 18:63f) nachlesen. Dort sind nämlich rein historische Darstellung und theologische Deutung fein säuberlich getrennt: Josephus selbst hat ersteres beigesteuert, der christliche Glossator letzteres:
Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten.[vgl. dazu unten Nr.11!] Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort.
8. Wäre der «Jesus der Geschichte» grundsätzlich über das damalige Mittelmass hinausgetreten, würde es auch rein historisch schwierig, seinen Tod zu erklären. Gekreuzigt wurde er ja, weil man ihn in Jerusalem nicht kannte: am Osterfest mussten damals unter römischer Besatzung terroristische Umtriebe befürchtet werden. Und wenn nun Jesus als unbekannter Landrabbiner aus Galiläa, einem damals heissen terroristischen Pflaster, sich allzu auffällig benahm (z.B. indem er in einer Zeichenhandlung den Tempeldienst kurz störte, vgl. Mk 11:15-19) war es aus römischer Sicht (und auch aus Sicht der Jerusalemer Behörden - deren Sicht fasst bezeichnenderweise Joh 11:47-53 am genauesten zusammen, vgl. Mk 14:1f) sicherer, ihn vorsorglich aus dem Verkehr zu ziehen. Dass man dies auch tatsächlich getan hat, setzt nun voraus, dass Jesus in Jerusalem völlig unbekannt war, und zwar weil er auch schon in Galiläa nur mässig und nur für einen kleinen Kreis von Leuten Bedeutung erlangt hatte. Und das wäre wohl kaum der Fall gewesen, hätte er wirklich für 5'000 + 4'000 Zuhörer Brot vermehrt (Mk 6:33ff; 8:1ff), Tage lang auf spektakuläre Weise Kranke geheilt und Tote auferweckt.
9. War nun aber der historische Jesus ein ziemlich durchschnittlicher Lehrer, der zwar eine menschenfreundliche Form von Judentum propagiert haben mochte, aber ansonsten durchaus nicht aus dem damaligen Rahmen fiel, stellt sich natürlich die Frage, wieso denn seine Jünger auf die Idee kamen, in ihm einen Messias, ja Gott selbst zu sehen. Das NT gibt darauf eine erschreckend klare und einfache Antwort: wegen seiner «Auferstehung». Auch die modernen Exegeten sind sich zwar darin einig, dass die «Ostererfahrung» der Jünger (wie man das nobel, abstrakt und verschleiernd nennt) den alles entscheidenden Wendpunkt und Ausgangspunkt des christlichen Glaubens darstellt. Nur wird diese Erfahrung meist stark psychologisiert und spiritualisiert: die Jünger seien nach dem gewaltsamen Tod ihres Meisters vorerst depressiv nach Galiläa zurückgekehrt, um ihre früheren Tätigkeiten wieder aufzunehmen und erst ganz allmählich («nach drei Tagen») sei in ihnen die Überzeugung gewachsen, dass der Tod Jesu nicht das letzte Wort sein könne. Dieses innere Raunen sei im NT natürlich mythisch aufgeladen und dramatisiert worden, es hätte aber auch unabhängig von dieser Dramatisierung den Ausgangspunkt der christlichen Predigt dargestellt. Ein solches Verständnis der «Ostererfahrung» ist zwar durchaus mit dem modernen, agnostischen Weltbild kompatibel, aber ich glaube nicht, dass sich die explosionsartige Entfachung der christlichen Predigt historisch so erklären lässt. Die Jünger Jesu waren ja keine versierten Schriftgelehrten, die noch so gerne jede Gelegenheit zum Predigen und Belehren ergriffen hätten. Es waren bodenständige Unternehmer, die Galiläischen Fisch bis nach Rom exportierten. Zwar hatten sie sich dank ihrer Faszination für die Persönlichkeit Jesu zeitweise von ihren KMUs weglocken lassen. Dass aber solche Leute dann aus blosser Nostalgie nach einem toten Lehrer alles verlassen hätten, um für den Rest ihres Lebens über ihre inneren Gefühlswallungen zu berichten, scheint mir nun wirklich nicht wahrscheinlich.
10. Mir scheint vielmehr, man müsse die ntl. Berichte über die Auferstehung Jesu sehr wörtlich nehmen, wenn man den plötzlichen Anfang der christlichen Predigt historisch wirklich verstehen will. In den ntl. Texten werden die predigenden Jünger stets als «Zeugen» verstanden. Zeuge ist man nur, wenn man etwas wirklich erlebt hat und ich glaube, die Jünger hatten in der Tat, ganz ohne Metaphorik, etwas wirklich Umwälzendes erlebt, das sie alsogleich predigend bezeugen mussten. Man mag das als «Ostererfahrung» bezeichnen, wenn man es nur handfest und konkret genug versteht.
11. Zur Ostererfahrung der Jünger gehörte zunächst das verstörende Erlebnis, dass ihr Meister in einer Nacht- und Nebelaktion verhaftet, ohne ordentlichen Prozess und aus unklaren Gründen verurteilt wurde und auch gleich die schlimmste damals praktizierte Strafe erleiden musste. Noch verstörender aber muss es für sie gewesen sein, dass Jesus, der am Vorabend eines Sabbats am Kreuz gestorben war, am ersten Tag nach diesem Sabbat plötzlich wieder lebendig vor ihnen stand und mit ihnen verkehrte, und zwar in einer neuen, gänzlich unverständlichen und nie gesehenen Form von Körperlichkeit, dank der er geschlossene Türen durchschreiten und auch wieder nach Belieben verschwinden konnte. Als letzter Aspekt der Ostererfahrung der Jünger gehört schliesslich der Umstand, dass der Auferstandene nach einem 40-tägigen Umgang mit ihnen sie endgültig verliess, um «von dieser Welt zum Vater» (Joh 13:1) zu gehen und dass dieser Verlust sie erstaunlicherweise nicht depressiv werden liess, sondern sie im Gegenteil mit einer rätselhaften Begeisterung erfüllte, aufgrund derer sie sich gleich daran machten, die erlebten Wunder zu bezeugen. (Josephus erwähnt im oben zitierten Abschnitt nur das erste Drittel dieser Ostererfahrung, weil er ja weder Jünger Jesu noch Christ war.)
12. Mir ist natürlich klar, dass es heute in der modernen, historisch-kritischen Exegese nicht nur unüblich, sondern geradezu völlig deplatziert ist, die ntl. Berichte über die Auferstehung Jesu genau so wörtlich zu nehmen, wie die Passionsgeschichte. Ich sehe allerdings nicht ein, wieso man es nicht dennoch tun sollte, wenn man Wunder nicht grundsätzlich für absolut unmöglich hält (was man als Theologe und als religiöser Mensch nicht unbedingt tun sollte). Jedenfalls hat man dazu drei nicht allzu schlechte Gründe: Erstens ist man so nicht mehr gezwungen, den ersten Zeugen, die sich ausdrücklich als solche verstanden, systematisch zu misstrauen und ihr Zeugnis psychologisch oder sonst wie umzubiegen. Zweitens versteht man so viel besser, warum die Jünger Jesu, anders als etwa die Johannesjünger oder die Jünger aller andern damaligen Messias-Prätendenten, nach dem Tod ihres Meisters «ihm nicht untreu wurden» (wie es Josephus staunend vermerkt), sondern weitermachten. Und zwar nicht so, dass sie einfach nur dessen Sache weiter vertreten hätten, sondern so, dass sie sogleich ihn selbst als Erlöser zum Zentrum ihrer Verkündigung machten und sich dabei auch durch die sehr schnell einsetzende Verfolgung nicht mehr bremsen liessen.
13. Es gibt schliesslich einen dritten Grund, die Osterberichte wörtlich zu verstehen. Dieser Grund gilt aber als so unanständig, dass man ihn besser nicht nennen sollte, wenn man ernst genommen werden will: das Turiner Grabtuch. Dieses Leinenband von 4,3 x 1,1 m, das im Turiner Dom aufbewahrt wird, und ebenso das Schweisstuch von Oviedo (Asturien) wurden Jahrhunderte lang als die Tücher verehrt, die Petrus und Johannes am Ostermorgen im leeren Grab erblickt hatten (Joh 20:5-7). Im 18. Jhd. gerieten natürlich beide Tücher als lächerliche, mittelalterliche Fälschungen in Verruf – bis 1898 ein Fotograf bemerkte, dass die schwach sichtbaren Gesichtszüge auf dem Turiner Grabtuch ein fotographisches Negativbild sind. Seither haben sich – besonders in Turin und Oviedo – verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern um beide Tücher bemüht und sie mit den jeweils neuesten Methoden der (Natur-)Wissenschaft und Technik akribisch untersucht. Dabei haben sie nicht nur festgestellt, dass beide Tücher im 1.Jhd. n.Chr. in Palästina gewoben wurden, vom selben Toten stammen, der ein Gekreuzigter war und dass Form, Anzahl und Lokalisierung der Blutspuren auf beiden Tüchern sowie das Fehlen jeglicher Verwesungsspuren auf dem Turiner Grabtuch bis ins Detail mit den ntl. Passions- und Auferstehungsberichten übereinstimmen. Sie sind besonders auch zum Schluss gekommen, dass die einzige bis jetzt mögliche Erklärung für das rätselhafte Negativbild auf dem Turiner Grabtuch eine blitzartige, heftige Energieentladung sein müsste, durch die sich die Leiche «entmaterialisiert» hätte. Das alles passt weder in die Welt der agnostischen oder atheistischen Naturwissenschaft noch in die der modernen, rationalistisch-liberalen Theologie. Deswegen werden beide Tücher – ausser in stramm rechtskatholischen Kreisen – grundsätzlich mit eisernem Schweigen bedacht. Mir scheint dieses Schweigen sehr problematisch - und zwar wohlgemerkt nicht aus theologischen, wohl aber aus wissenschaftstheoretischen Gründen: Das Negativbild auf dem Turiner Grabtuch ist nämlich ein real existierendes, physisches Phänomen, d.h. also ein naturwissenschaftliches Problem, das man selbstverständlich lösen müsste – auch wenn man dabei Gefahr läuft, ex obliquo die Glaubwürdigkeit des NT zu erhöhen…
14. Unter den Jüngern Jesu haben gewisse schon sehr früh, das, was sie erlebt hatten und das, was sie mündlich verkündeten auch schriftlich festgehalten. Einer von ihnen war Johannes, der wohl ein Augenzeuge war und vielleicht tatsächlich zur Jerusalemer Prominenz gehörte (vgl. Joh 18:15). In seiner Passionsgeschichte (Joh 18-19) und in seinen Ostererzählungen (Joh 20:1-29) hielt er zunächst schlicht nur das fest, was er selbst unmittelbar vor und nach dem Tod Jesu erlebt hatte. Parallel zur Verkündigung von Jesus als dem Christus erfand dann aber jemand die Gattung «Evangelium», durch die die Ostererfahrung nun auf das gesamte Leben Jesu zurückprojiziert wurde. So konnte die Leserschaft plötzlich auf ein Leben blicken, das das Leben eines jüdischen Lehrers gewesen war, der sich nach seinem Tod durch das «vertikale Wunder» (K. Barth) seiner Auferstehung aber zugleich als Messias und Sohn Gottes entpuppt hatte. Vielleicht hat auch wieder der originelle Johannes diese Idee gehabt, vielleicht hat er sie aber von Markus, deren ursprünglichem Erfinder, im Verlauf der langen Redaktionsgeschichte seines Evangeliums übernommen. Sicher ist: wenn wir heute erfassen wollen, «was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte» (DV Nr. 12), müssen wir ihre «Evangelien» historisch-kritisch (was nicht heisst: historisch-überkritisch!) lesen: Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was sie uns darin über die Worte und Taten des historischen Jesus mitteilen wollten und dem, was sie - in genau demselben narrativen Stil - über ihn als göttlichem Subjekt verkündeten, «damit wir durch den Glauben das Leben haben» (Joh 20:31).
Fribourg, 21.07.2024