Der Terrorismus als Zerrspiegel

Wie oft spricht man über den Tod, aber wie wenig rechnet man mit ihm als Realität. Ich selbst kann mir meinen Tod überhaupt nicht vorstellen und obwohl ich seine Unvermeidlichkeit anerkenne, glaube ich nicht an ihn. (...) Wie würden die Menschen leben, wenn sie an ihren Tod glauben würden; würden sie es bewusster gestalten oder würden sie ihrem Leben gleich ein Ende setzen?

 

Diesen Satz schreibt der 18-jährige A.W. Koschewnikoff am 3. Oktober 1920 in sein „Tagebuch eines Philosophen“. Damit zeigt der geniale russische Immigrant, der in Paris kurz vor dem 2. Weltkrieg – nunmehr als Alexandre Kojève - mit seinen Seminaren über Hegels „Phänomenologie des Geistes“ die gesamte französische Philosophie der Nachkriegszeit prägen sollte, wie frühreif und scharfsinnig er schon immer gewesen war.

 

Natürlich ist der Satz zunächst einmal typisch für einen Heranwachsenden, der in der Adoleszenz eben seine eigene Sterblichkeit entdeckt hat. Aber dennoch: der Satz umreisst auch knapp und treffend das Lebensgefühl des modernen, d.h. aufgeklärten Menschen, der sich nicht nur von seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, sondern zugleich auch vom steten Bewusstsein seiner Endlichkeit verabschiedet hat

 

Insofern wären diese paar Sätze nach den Attentaten von Paris zur Klärung der Situation eventuell nützlicher, als das ganze Paris-Buch von Ernest Hemingway, das im Moment trotzig hochgejubelt wird (Paris – ein Fest fürs Leben).

 

Vielleicht sind ja die Attentäter tatsächlich Menschen, die plötzlich aus irgendwelchen Zufällen heraus angefangen haben, an ihren eigenen Tod zu glauben, die deswegen ihr endliches Leben „bewusster gestalten“ möchten und die dabei von der modernen, d.h. aufgeklärten Gesellschaft jämmerlich im Stich gelassen werden: Diese verdrängt ja nicht nur den Tod, indem sie – jedenfalls für die, die es sich leisten können – ein dauerndes „Fest fürs Leben“ organisiert und dabei die gesamte Kultur (die eigentlich der praktischen Bewältigung der Endlichkeit dienen sollte) vor ihren hedonistischen Karren spannt. Sie verdrängt auch – zumal im borniert laizistischen Frankreich – die Religion, ohne die wohl kaum jemand sein Leben angesichts des Todes sinnvoll gestalten kann. Und sie sorgt schliesslich auch dafür, dass in den seltenen religiösen Ghettos, die sie noch toleriert, keine brauchbaren Alternativen zur herrschenden spätkapitalistischen Ideologie aufkommen: in den christlichen Oasen säuselt der aufgeklärte Geist einer belanglosen Wohlfühl-Spiritualität, in den muslimischen Hinterhöfen klappert der autoritäre Ungeist einer versteinerten Tradition. In beiden Fällen wird die menschliche Endlichkeit allerhöchstens theoretisch zerredet und so praktisch umso wirksamer verdrängt.

 

Und so kehrt denn das Verdrängte bei Menschen, die ihre Endlichkeit realistisch einschätzen, in unkontrollierter Gestalt wieder und sie wählen den zweiten von Kojève genannten Ausweg: sie setzen ihrem Leben ein Ende. Und sie reissen dabei auch noch gleich einige andere mit: Karikaturisten, Konzertbesucher, Kaffeetrinker – egal, einfach Leute, die ihnen frivol und oberflächlich vorkommen, weil sie scheinbar das Problem nicht wirklich sehen, das der Tod für jeden Menschen darstellt. Ich fürchte, dass die Attentäter mit dieser Einschätzung oftmals leider nicht ganz Unrecht haben und dass sich somit im Wahnsinn islamistischer Gewalt lediglich – konzentriert und leicht verzerrt – unsere eigene diffuse Verrücktheit spiegelt...

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